Wie man mit
solchen schwierigen Fällen umgehen könnte,
ist bislang kaum reflektiert worden. Vielmehr ist es gang und gäbe,
problematische biografische Aspekte zu verschweigen oder zu bagatellisieren.
So geschah es auch in der Gedenkstunde des Bundestages, bei der,
stellvertretend für die Opfergruppe schwuler Männer, der
Auschwitz-Überlebende Karl Gorath geehrt wurde. Dabei blieben
entscheidende Aspekte unerwähnt: Denn Gorath war nicht wegen
einvernehmlicher Homosexualität mit Männern verurteilt
worden, sondern wegen Missbrauchs
von Kindern und Jugendlichen. Der Historiker Lutz van Dijk,
der die Gedenkfeier initiiert und in langjähriger Lobbyarbeit
durchgesetzt hatte, verschwieg
diese Vorstrafen in der von ihm verfassten Gedenkrede bewusst
und präsentierte Gorath stattdessen als einen gewöhnlichen
Homosexuellen.
Das Bundestagspräsidium,
das van Dijks Konzeption der Gedenkfeier übernahm, war dabei
nicht gut beraten. Tatsächlich waren die Warnzeichen im Fall
Gorath unübersehbar: So war schon lange bekannt, dass er zu
einer Zuchthausstrafe verurteilt worden war, die er in Celle verbüßt
hatte. Zuchthausstrafen wurden jedoch nicht in Fällen einfacher
Homosexualität nach § 175 verhängt, sondern dann,
wenn es um qualifizierte Homosexualität nach §
175a ging, so insbesondere um die Verführung Jugendlicher.
Mit einer Anfrage beim Landesarchiv Niedersachsen hätte dieser
Punkt leicht überprüft werden können. Denn dort wird
Goraths Zuchthausakte aufbewahrt, die seine Vorstrafen en detail
dokumentiert.
Demnach war
Gorath 1934 erstmals verurteilt worden: nach § 176 wegen unzüchtiger
Handlungen mit Kindern. Seit 1931 hatte der damals 18-Jährige
im Christlichen Verein Junger Männer mit mehreren noch
nicht 14 Jahre alten Schülern wechselseitige Onanie betrieben.
Überdies hatte er die Kinder zum Teil auch zwischen den
Oberschenkeln und in dem After gebraucht. Überdies hatte
man ihn damals wegen Verleumdung bestraft, weil er einen Schulleiter,
der ihn offenbar angezeigt hatte, seinerseits der Homosexualität
bezichtigt hatte. Es folgte eine Verurteilung wegen Unterschlagung
und Betrugs, bevor Gorath dann 1939 erneut ins Visier der Polizei
geriet: In einem Versorgungsheim, in dem er als Krankenpfleger arbeitete
und auch Jugendliche beaufsichtigen musste, hatte er einen 15-Jährigen
sexuell bedrängt. Wie sich im Zuge des Verfahrens herausstellte,
hatte er auch noch andere ihm anvertraute Jugendliche belästigt.
Das Landgericht Verden verurteilte ihn schließlich wegen Verführung
Jugendlicher nach § 175a zu insgesamt drei Jahren Zuchthaus.
Die Strafe fiel auch deswegen so hart aus, weil Gorath das zwischen
ihm und den Jugendlichen bestehende Autoritätsverhältnis
in den Augen des Gerichts schmählich missbraucht
hatte.
All dies hätte
man wissen können. Und Lutz van Dijk wusste es auch, wie er
mittlerweile in einem Beitrag
für Welt online offenbart hat. Dennoch verschwieg er die
Missbrauchsvorwürfe. Lieber stilisierte er Gorath zu einem
Märtyrer, der angeblich wegen einvernehmlicher Homosexualität
nach § 175 verurteilt worden sei, weil er sich mit anderen
Männern traf. Die Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs
verharmloste er mit der Formulierung: Zwei Jungen eben.
Als sei Gorath zum Zeitpunkt der Taten selbst noch ein Kind gewesen.
Inzwischen hat
Lutz van Dijk eingeräumt, dass es im Fall Gorath um Sex mit
Kindern und Jugendlichen geht. Nun allerdings spekuliert er darüber,
ob dieser nicht auf Wechselseitigkeit beruht haben könnte.
Womit er wohl sagen will, der Sex könnte einvernehmlich gewesen
sein. Sexualkontakte mit Kindern und mit Jugendlichen in Abhängigkeitsverhältnissen
sind allerdings immer strafbar, egal ob wechselseitig
oder nicht. Dafür gibt es gute Gründe, die wohl keiner
weiteren Erläuterung bedürfen. Insgeheim weiß das
auch Lutz van Dijk. Ansonsten hätte er die Missbrauchsvorwürfe
nicht verschwiegen.
Ohne Frage muss
man den Vorwurf der Jugendverführung im Einzelfall
immer kritisch hinterfragen. Dies gilt erst recht für entsprechende
Verurteilungen aus der NS-Zeit. Denn der 1935 geschaffene §
175a kriminalisierte jeden Mann über einundzwanzig Jahre,
der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt,
mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen
zu lassen. Bestraft wurden oft auch einvernehmliche Sexualkontakte
mit Jugendlichen und Heranwachsenden, die heute vollkommen legal
sind. Selbst Verführungsversuche wurden verfolgt:
Zu einer Verurteilung kam es mitunter schon, wenn man einen Jugendlichen
zum Eis einlud. Doch viele Handlungen, die nach § 175a verfolgt
wurden, wären auch heute noch strafbar: So etwa Sexualkontakte
zu Jugendlichen in Abhängigkeitsverhältnissen oder sexuelle
Übergriffe in Form unaufgeforderter körperlicher Berührungen,
die von den betroffenen Jugendlichen als Belästigung empfunden
wurden. Und solche Fälle waren nicht selten, wie eine Studie
zur Strafverfolgung Homosexueller in Sachsen gezeigt hat. Auch
im Fall von Karl Gorath ist die Situation ziemlich klar: Die Handlungen,
die ihm vorgeworfen wurden, wären auch heute noch strafrechtlich
relevant.
Van Dijks legerer
Umgang mit historischen Fakten ist kein Einzelfall. Vielmehr ist
er symptomatisch für eine schwule Erinnerungskultur, die dazu
neigt, störende biografische Aspekte auszublenden
oder schönzureden - ähnlich wie auch beim lesbischen
Gedenken. Schon vor dreißig Jahren hatte das Schwule Museum
den KZ-Überlebenden Heinz Dörmer in einer Ausstellung
als ein Opfer nazistischer Strafwillkür inszeniert
und den eigentlichen Verfolgungsgrund vernebelt: Auch Dörmer
war wegen Kindesmissbrauch vorbestraft. Und auch bei Stolpersteinsetzungen
wurden Verurteilungen wegen Jugendverführung oder
Kindesmissbrauch mitunter verschwiegen. Zurückzuführen
ist diese Verschleierungskultur auf die verspätete
und bis heute lückenhafte Erforschung der NS-Verfolgung Homosexueller.
Da die Geschichtswissenschaft
das Thema ignorierte, waren es schwule Initiativen und Hobbyhistoriker,
die in den 1970er Jahren begannen, die eigene Geschichte
aufzuarbeiten. Eng verknüpft war dies mit dem damaligen Kampf
gegen den § 175, der 1969 liberalisiert worden war, als Jugendschutzparagraf
aber noch bis 1994 fortbestand. Der Rosa Winkel, mit dem die Nazis
die Homosexuellen in den Konzentrationslagern gekennzeichnet hatten,
avancierte dabei zu einem Symbol schwulen Stolzes, das
für den aktuellen Befreiungskampf nutzbar gemacht wurde. Und
so kam es, dass auch die Aufarbeitung der NS-Verfolgung in eine
Schieflage geriet: Übertreibung und Dramatisierung waren verbreitet,
einige Forscher sprachen von einem Massenmord an Homosexuellen
oder sogar von einem Homocaust.
Damit einher
ging die Neigung, bei der Aufarbeitung von Opferbiografien unschöne
Aspekte auszublenden. So etwa Vorstrafen wegen Jugendverführung,
Kindesmissbrauchs oder anderer krimineller Delikte, die auch heute
strafbar wären. Dies galt nicht zuletzt für die schwulen
KZ-Häftlinge, deren Biografien nicht selten zu Heldengeschichten
überhöht wurden, sich bei genauerer Betrachtung aber oft
als ambivalent erweisen. Denn während es bei der Strafverfolgung
Homosexueller überwiegend um einvernehmliche Sexualkontakte
unter Männern ging, waren von KZ-Einweisungen vor allem sogenannte
Jugendverderber, Strichjungen und Berufsverbrecher
bedroht. Nach den ersten Razzien 1934/35 wurden zwar auch gewöhnliche
Homosexuelle in Konzentrationslagern interniert. Später geschah
dies aber nur noch in Ausnahmefällen: insbesondere dann, wenn
es sich um Juden oder Oppositionelle handelte.
Der Historiker
Jürgen Müller hatte bereits im Jahr 2000 am Beispiel Kölns
gezeigt, dass es vor allem die pädophilen Homosexuellen
waren, die in die KZs deportiert wurden. Bisher hat dieser Befund
kaum Beachtung gefunden offenbar kratzt er zu sehr am Selbstbild
einer Bewegung, die den Rosa Winkel einst zu ihrem Symbol gemacht
hatte. Neuere Untersuchungen zu Leipzig und Frankfurt am Main untermauern
aber, dass gewöhnliche Homosexuelle in der Regel nicht von
KZ-Einweisungen betroffen waren.
Dass diese Forschungsergebnisse
kaum beachtet werden, hängt wohl auch damit zusammen, dass
sie alte Vorurteile und Klischees zu bestätigen scheinen. So
etwa die Vorstellung vom schwulen Knabenschänder,
die schon vor 1933 weit verbreitet war und die öffentlichen
Debatten über eine Verschärfung des Strafrechts für
Jugendverführer beeinflusste. Auch die Nationalsozialisten
nutzten solche Vorurteile, um die Verfolgung Homosexueller zu legitimieren.
Und so verwundert es nicht, dass nun auch Lutz van Dijk auf das
Stereotyp vom homosexuellen Kinderschänder verweist, um die
Verschleierung von Goraths Vorstrafen zu rechtfertigen: In seinen
Augen handelte es sich bei den Missbrauchsvorwürfen um nationalsozialistische
Narrative. Mehr noch: Van Dijk insinuiert, Kindesmissbrauch
sei nur ein historisches Stereotyp, dass es zu demaskieren
gelte.
Damit macht
er es sich allerdings zu einfach. Denn der Umstand, dass der Missbrauchsvorwurf
auch dazu genutzt wurde, Homosexuelle zu diskreditieren, bedeutet
ja nicht, dass es nicht auch Fälle sexuellen Missbrauch durch
Homosexuelle gegeben hätte. Wer glaubt, man könne Vorurteile
bekämpfen, indem man reale Missbrauchsfälle vertuscht
oder schönredet, ist auf dem Holzweg. Vielmehr liefert man
damit nur die Munition für all jene, die Homosexuelle als Kinderficker
diffamieren.
Bundestagspräsidentin
Bärbel Bas hatte in der Gedenkstunde am 27. Januar 2023 gefordert,
wir müssten in der Erinnerungskultur neue Wege gehen.
Doch der von ihr gewählte Weg hat sich als ein Irrweg erwiesen.
Die ambivalenten Aspekte von Opferbiografien einfach unter den Teppich
zu kehren, ist keine Lösung. Patentrezepte gibt es für
diese Frage sicherlich nicht, vielmehr kommt es auf jeden Einzelfall
an. Der Fall Gorath zeigt aber, dass die in der Erinnerungskultur
vorherrschende Fokussierung auf Opferbiografien moralische Grenzen
hat Grenzen, die sich auch im Gedenken an die inzwischen
rehabilitierten Verfolgtengruppen der Asozialen und
Berufsverbrecher zeigen werden. Um keine Missverständnisse
aufkommen zu lassen: Die Deportation in Konzentrationslager war
immer Unrecht, egal aus welchen Gründen sie geschah. Im Gedenken
jedoch kann man nicht einfach ignorieren, dass einige NS-Opfer zuvor
auch selbst zu Tätern geworden waren.
Was folgt aus
all dem? Ins Positive gewendet, könnte es zu einer Debatte
darüber anregen, wie zielführend das opferzentrierte Gedenken
überhaupt ist. Funktioniert das Konzept, Empathie mit Opfern
zu erzeugen, um junge Menschen von dem immer wieder postulierten
Nie wieder zu überzeugen, überhaupt noch?
Dass der erhoffte pädagogische Effekt erzielt wird, muss angesichts
der Tatsache, dass homophobe und antisemitische Einstellungen gerade
unter Jugendlichen weit verbreitet sind, bezweifelt werden. Was
das opferzentrierte Gedenken sicherlich nicht ersetzen kann, ist
Aufklärung über die Mechanismen von Herabsetzung, Diskriminierung
und Verfolgung derjenigen, die in bestimmten gesellschaftlichen
Situationen zu Anderen stilisiert werden.
Mit der Präsentation
geschönter Opferbiografien stärkt man hingegen
nur die Kräfte, die die deutsche Erinnerungskultur schon lange
als Schuldkult brandmarken. Der schwule Historiker James
D. Steakley brachte diese Problematik schon vor 20 Jahren auf den
Punkt: Wie können wir den historischen Revisionisten,
also all jenen Vertretern der pseudowissenschaftlichen Auschwitz-Lüge,
den Vorwurf machen, sie würden Fakten verzerren oder ignorieren,
solange wir selber mit historisch nicht haltbaren Tatsachen argumentieren?
Erhört wurde seine Mahnung bis dato nicht.
Zum Autor:
Dr. Alexander Zinn, Historiker, hat verschiedene Studien zur NS-Homosexuellenverfolgung
veröffentlicht, so unter anderem:
Aus dem Volkskörper entfernt? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus.
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