Rosa Winkel - Die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus
Aktuelles
Ideologie
Razzien
Paragraf 175
KZ-Haft
Biografien
Rehabilitierung
 
Literatur
Impressum
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Die ideologischen Motive der Homosexuellenverfolgung

"Sexual acts have no inherent meaning, and in fact, no act is inherently sexual. Rather, in the course of interactions and over the course of time, individuals and societies spin webs of significance around the realm designated as 'sexual'." Steven Epstein

Prägend für das Homosexuellenbild der Nationalsozialisten sind die Vorstellungen des „Reichsführers SS“ und späteren Gestapo-Chefs Heinrich Himmler. Schon in jungen Jahren setzt er sich mit dem Thema auseinander. Großen Einfluss auf ihn haben die Theorien Hans Blühers über die Bedeutung der Homosexualität für Männerbund und Staatenbildung. 1922 liest Himmler Blühers Buch über die „Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“, das ihn sehr beschäftigt. So notiert er am 4.3.1922 in seinem Tagebuch: „In dem Buch gelesen, es packt und rüttelt einen im Tiefsten, man möchte zur Frage kommen, was hat das Leben für einen Zweck, es hat aber einen. – Tee. Studiert. Abendessen. Wieder gelesen. […] Übungen. ½ 11 Uhr Bett, unruhig geschlafen.“ Blühers These über den konstitutiven Charakter der Homosexualität für Männerbund und Staat beeindruckt Himmler zutiefst. Doch Himmler zieht ganz andere Schlüsse aus Blühers Thesen, als es diesem Kämpfer für die Rechte Homosexueller recht sein kann: „Dass es eine männliche Gesellschaft geben muss, ist klar. Ob man es als Erotik bezeichnen kann, bezweifle ich. Auf jeden Fall ist die reine Päderastie eine Verirrung eines degenerierten Individuums, da sie naturwidrig ist.“


Aus Blühers Thesen und den Debatten um die „Eulenburg-Affäre“, die von dem Vorwurf bestimmt waren, ein Kreis Homosexueller übe auf den deutschen Kaiser einen ungünstigen Einfluss aus und untergrabe damit die Verteidigungsfähigkeit des Reiches, entwickelt Himmler schließlich eine eigene Theorie. Ihm erscheint die Homosexualität als eine Bedrohung des Staates, den er im Sinne Blühers als eine Domäne des Mannes betrachtet. Homosexuelle Männer streben in seinen Augen danach, staatliche Strukturen zu unterwandern, was diese aber nicht, wie Blüher meint, stärke, sondern im Gegenteil zur „Zerstörung des Staates“ führe. Hier zeigt sich Himmler auch stark beeinflusst von den um die Jahrhundertwende populären Dekadenztheorien, die den Untergang des Römischen Reiches und anderer mächtiger Staaten auf eine Ausbreitung der Homosexualität zurückführen.

Sehr ausführlich schildert Himmler die „dauernde Gefahrenquelle“ einer Unterwanderung des nationalsozialistischen „Männerstaates“ in einer Geheimrede am 18.2.1937 vor SS-Gruppenführern in Bad Tölz: „Wenn Sie an irgendeiner Stelle einen so veranlagten Mann im Männerstaat haben, der etwas zu sagen hat, können Sie mit Sicherheit drei, vier, acht, zehn und noch mehr gleichveranlagte Menschen finden; denn einer zieht den anderen nach, und wehe, wenn da ein oder zwei Normale unter diesen Leuten sind, sie werden in Grund und Boden verdammt, sie können machen was sie wollen, sie werden kaputtgemacht.“ In den Augen Himmlers sind Homosexuelle eine verschworene Gemeinschaft, die das Leistungsprinzip durch „ein erotisches Prinzip“ ersetzt. In dem Augenblick aber, wo „ein geschlechtliches Prinzip im Männerstaat von Mann zu Mann einkehrt, beginnt die Zerstörung des Staates“, so Himmler weiter. „Homosexualität bringt also jede Leistung, jeden Aufbau nach Leistung im Staat zu Fall und zerstört den Staat in seinen Grundfesten.“



Heinrich Himmler und Ernst Röhm am 13.8.1933
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 102-15282
Fotograf: Georg Pahl

Das von Himmler entwickelte Bedrohungsszenario ist eng verknüpft mit den Erfahrungen, die er mit seinem Vorgesetzten, dem homosexuellen SA-Stabschef Ernst Röhm macht. In den Augen Himmlers ist Röhm der Prototyp eines Homosexuellen, der eine Clique Gleichveranlagter um sich sammelt, mit der er zur Macht drängt. Die Ermordung Röhms und einiger anderer Homosexueller aus seinem engeren Führungszirkel, die Himmler im Juni 1934 im Auftrag Hitlers organisiert, wird gegenüber der Öffentlichkeit denn auch als die Abwehr eines Putschversuches legitimiert. Dass es sich bei der Verknüpfung der angeblichen Putschabsichten Röhms mit einer homosexuellen Verschwörung eben nicht nur um „Propaganda“, sondern um ein aus den Thesen Blühers erwachsenes und zur Wahnvorstellung verkehrtes ideologisches Konstrukt handelt, zeigt sich daran, dass Himmler diese Linie auch intern gegenüber seinen Mitarbeitern vertritt. So berichtet der spätere Gestapa-Verwaltungschef Werner Best, Himmler habe bereits kurz nach der Mordaktion den versammelten SS-Führern erklärt, man sei nur „knapp der Gefahr entgangen, einen Staat von Urningen [Homosexuellen] zu bekommen“.


Verbreitet wird dieses Homosexuellenbild nicht nur auf diversen Arbeitstagungen, sondern auch in einer im Frühjahr 1937 publizierten Artikelserie der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps. Zum Beispiel in einem Artikel vom 4. März, der unter der Überschrift „Das sind Staatsfeinde“ erscheint: „Sie [die Homosexuellen] sind Staatsverbrecher, weil sie nicht nur aus ‚Neigung‘, sondern ebenso aus Zweckmäßigkeitsgründen immer mit ihresgleichen umgehen, sobald sie irgendwo eine leitende Stellung bekleiden und Vorgesetzte abhängiger Untergebener sind. Sie bilden einen Staat im Staate, eine geheime, den Interessen des Volkes zuwiderlaufende, also staatsfeindliche Organisation.“ Wenig überraschend ist es, dass als Kronzeuge für diese These der „Wandervogelapostel Hans Blüher“ angeführt wird, dessen „Ideologie“ sich „gegen den Bestand der Volksgemeinschaft“ wende. Und so gipfelt der Artikel in der Forderung: „Nicht ‚arme, kranke Menschen‘ sind zu ‚behandeln‘, sondern Staatsfeinde sind auszumerzen.“



Titelseite des Schwarzen Korps vom 3.4.1937

In den meisten Presseveröffentlichungen wird die Homosexuellenverfolgung hingegen mit plakativeren und eingängigeren Motiven gerechtfertigt. So insbesondere mit der Vorstellung, Homosexuelle verführten die „deutsche Jugend“, beraubten das deutsche Volk so seiner „Zeugungskraft“ und bedrohten die Fortpflanzung und das angestrebte Bevölkerungswachstum.

Die nationalsozialistische Verfolgungspolitik zielt nicht nur auf die „veranlagten“ Homosexuellen, die in den Augen der Gestapo nur eine kleine Minderheit darstellen, sondern vor allem auf die breite Masse jener Männer in NS-Organisationen und „Männerstaat“, die nach Blühers Theorie besonders anfällig erscheinen für Homoerotik und Homosexualität. Ihre „Verführung“ zu verhindern, ist der eigentliche Zweck der Verfolgungsmaßnahmen, würde sie in den Augen Himmlers doch unweigerlich zur „Zerstörung des Staates“ führen. Erst dieses Bedrohungsszenario macht plausibel, warum Himmler und die Gestapo die Homosexualität für „eine Staatsgefahr mindestens vom gleichen Umfange wie der Kommunismus“ halten. Es macht verständlich, warum die Verfolgungspolitik in der NS-Propaganda kaum eine Rolle spielt und die Berichterstattung über Verhaftungen hoher NS-Funktionäre sogar untersagt wird – das antifaschistische Propagandaklischee vom ‚schwulen Nazi‘ will man nicht noch durch eigene Presseberichte bestätigen. Und nur dieses Bedrohungsszenario kann schließlich auch erklären, warum die Verfolgungspolitik nur auf homosexuelle Männer, nicht aber auf lesbische Frauen zielt – wäre es den Nationalsozialisten in erster Linie um die Reproduktion der Bevölkerung gegangen, so hätten sie die weibliche Homosexualität ebenso bekämpfen müssen wie die männliche.

Literaturtipp:

Alexander Zinn: »Aus dem Volkskörper entfernt«? Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus.
Frankfurt am Main 2018: Campus. Link zum Buchtipp

© Alexander Zinn 2017